Der 1957 in London geborene Charakterdarsteller Timothy Spall dürfte vielen Filmfans in erster Linie durch seine Rolle als Peter Pettigrew in der Harry Potter-Reihe bekannt sein. Seit den 1970er Jahren ist er auf der Bühne und vor der Kamera aktiv und spielt häufig Nebenrollen, etwa im Oscargewinner The King’s Speech oder in Spencer. Für seine Darstellung des Malers William Turner in Mr. Turner – Meister des Lichts wurde er bei den Filmfestspielen in Cannes als bester Darsteller ausgezeichnet. Ab 12. Oktober 2023 ist er in der Komödie Fearless Flyers – Fliegen für Anfängerim Kino zu sehen, über die wir uns mit ihm im Rahmen des Filmfest München unterhalten haben.
Fearless Flyers – Fliegen für Anfänger ist einer dieser Filme, die man am besten in einem vollen Kinosaal anschaut. Das ist einfach eine ganz andere Erfahrung, als wenn man sich den Film alleine daheim ansieht.
Ja, ist was dran. Es wird allerdings immer schwieriger, Film überhaupt im Kino sehen zu können. Aber ich glaube, dass bei Komödien – und vielleicht ganz besonders bei einer etwas ungewöhnlichen Komödie wie dieser hier – das Lachen ansteckend ist. Da findet im Kino eine gemeinsame Erfahrung statt, die sich die Zuschauer teilen, und davon profitiert der Film. Allerdings können eine Handvoll schlecht gelaunte Leute im Saal, denen der Film vielleicht nicht gefällt, diese Erfahrung auch zunichtemachen. Ich habe selbst erlebt, wie unterschiedlich der Film aufgenommen wird, abhängig von der Stadt, dem jeweiligen Publikum und seinen Erwartungen.
Haben die Zuschauer in Deutschland denn anders auf den Film reagiert als das Publikum in anderen Ländern?
Ich bin mir nicht sicher, aber ich hatte auf jeden Fall schon vorher das Gefühl, dass der Film hier gut aufgenommen werden würde. Was ich selbst an diesem Film so liebe, ist diese wunderbare Mischung des Lächerlichen mit dem Tiefgründigen. Die Charaktere treffen fürchterliche Entscheidungen, um sich aus bestimmten Situationen zu befreien. Es gibt dieses wunderbare deutsche Wort „Schadenfreude“, das man im Zusammenhang mit diesem Film immer wieder verwenden kann. In den meisten Sprachen gibt es ein solches Wort gar nicht, also hatte ich mir schon gedacht, dass der Film hier gut ankommt.
Wie haben Sie sich denn auf Ihre Rolle vorbereitet?
Beim Lesen des Drehbuchs hat mir sofort gefallen, dass man anfangs nicht weiß, was es mit diesem Typen auf sich hat. Dann findet man heraus, dass er Schriftsteller ist. Und noch später im Film erfährt man, dass er Soldat war und ein paar schreckliche Einsätze mitgemacht hat, die bei ihm Spuren hinterlassen haben. Genau wie alle anderen Figuren im Film kann er unter extremem Druck nicht anders, als mit der Lage so umzugehen, wie er es früher gelernt hat. Das ist nicht gut, da er eigentlich versucht, die Kontrolle zu übernehmen, aber tatsächlich geistig etwas verwirrt ist. Was er dann unternimmt, ist ziemlich extrem.
Zur Vorbereitung habe ich mir viele Erfahrungsberichte von Soldaten angeschaut. Zum Beispiel habe ich die Berichte einiger Soldaten gefunden, die 1980 beim Erstürmen der iranischen Botschaft in London dabei waren. Solche Leute, die bei Antiterroreinsätzen oder in Kriegsgebieten im Einsatz waren, kommen nie vollkommen über diese Erlebnisse hinweg. Als junger Mann habe ich mal mit Percy Herbert zusammengearbeitet, der hunderte Filme gedreht hat und unter anderem in Die Brücke am Kwaimitgespielt hat. Er hat einige Zeit in einem japanischen Kriegsgefangenenlager verbracht und sagte zu mir: „Es gibt zwei Arten von Menschen, die in Kriegsgefangenenlagern waren – diejenigen, die niemals darüber sprechen, weil es so furchtbar war und diejenigen, die nicht aufhören können, darüber zu reden, weil es so furchtbar war.“ Er gehörte zur zweiten Gruppe und hat seine Erlebnisse zu verarbeiten versucht, in dem er einem alles erzählt hat, was ihm damals passiert ist.
Wenn Ihnen etwas Schlimmes passiert, behalten Sie es dann für sich selbst?
Nein, ich neige dazu, so etwas rauszulassen. Natürlich will ich niemanden beunruhigen, weil ich ja Vater bin und nicht einfach Unsicherheit verbreiten will. Glücklicherweise war ich nie an einem Krieg beteiligt! Ein paar Mal war ich ernsthaft krank – 1996 wäre ich fast gestorben, das war eine grausame Erfahrung, aus der ich viel gelernt habe. Von Leiden bleibt niemand verschont – das Leben ist gefährlich! Dazu muss man das Schicksal nicht einmal herausfordern. Wenn man die Gefahr überlebt, heißt es ja, dass einen alles, was einen nicht umbringt, nur noch stärker macht. Oder neurotischer. Das Großartige an echter Lebenserfahrung ist, dass man sie als Schauspieler stets in seiner Arbeit verwenden kann. Man kann einen Bezug zu einem echten Gefühl herstellen. Ich will diese Methode nicht unbedingt empfehlen, wenn man zu einem besseren Schauspieler werden will. Aber es kann schon nützlich sein, hin und wieder auf eigene Erfahrungen zurückzugreifen und so Authentizität herzustellen. Im echten Leben liegen auch bei schlimmen Erlebnissen Tragik und Komödie nah beieinander. Aus dieser Kombination kommt ja die Schadenfreude.
Wenn man im Film anderen Leuten zuschaut, wie sie schreckliche Dinge durchmachen, dann macht man selbst eine Katharsis durch. Man kann mit den Figuren mitfiebern und sie gleichzeitig verurteilen. Filme sind auf diese Weise eine Erforschung von Panik, Paranoia und Gefahr, aber eben auch eine hervorragende Möglichkeit, die Menschen zum Lachen zu bringen.
Was bringt Sie denn zum Lachen?
Genau die Dinge, über die ich gerade gesprochen habe: Die Wahrheit in allen möglichen Lebenslagen, die eben gerade in der Gegenüberstellung des Abschreckenden und Tiefgründigem mit dem Oberflächlichen und Lächerlichen besteht.
Und wovor haben Sie Angst? Die Charaktere im Film tun ja ganz schön verrückte Dinge aus Angst, oder sie versuchen aus Angst bestimmte Dinge unbedingt zu vermeiden.
Ich bin Seemann, ich fahre aufs Meer. Das ist sehr gefährlich. Man muss dabei äußerst vorsichtig sein und gut planen. Wenn man dabei Fehler macht, dann ist es zu Ende! Das Meer ist in dieser Hinsicht wie die Luft.
Dann könnt man ja eine Fortsetzung zu Fearless Flyers drehen, die auf dem Meer spielt.
Die gibt es ja schon – sie heißt Triangle of Sadness! Ein weiteres Beispiel für einen Film über Leute in einer furchtbaren Lage. Vielleicht sind Nordeuropäer besonders gut im Erzählen solcher schwarzen Komödien, aber vielleicht auch nicht. Es spricht ja alle an, wenn es gut gemacht ist. Die Figuren in Die sieben Samuraibefinden sich etwa in großer Gefahr, aber es gibt auch wunderbare lustige Szenen, besonders mit Toshiro Mifune. Diese Gegensätze sprechen ein internationales Publikum an. Auch dem Regisseur Mike Leigh gelingt das immer wieder. Er legt den Finger in die Wunde. Wenn man dabei ehrlich ist, dann kommt es bei den Leuten an. Wenn man aber komödiantische oder tragische Elemente nur als Selbstzweck einsetzt, dann wird es manipulativ. Aber wenn es ehrlich und wahrhaftig gemeint ist, dann erreicht man das Publikum. Die Geschichte muss dann nicht einmal besonders tiefgründig sein oder eine Botschaft haben, obwohl politische Botschaften momentan im Kino und in der Kunst sehr angesagt sind.
Wie war denn die Arbeit mit dem Regisseur, Hafsteinn Gunnar Sigurðsson? Hat er Sie viel proben lassen? Gab es Raum für Improvisation?
Ich bin spät zu den Dreharbeiten dazugestoßen, weil ich zuvor noch an einem anderen Film gearbeitet hatte und dann an Covid erkrankt war. Am Tag nach meiner Ankunft stand ich auch schon vor der Kamera. Ich glaube, der Regisseur hätte gerne etwas mehr Zeit zum Proben gehabt, aber aus verschiedenen Gründen konnte die gesamte Besetzung dafür nicht zusammenkommen. Aber er sprach mit uns allen über unsere Figuren und deren Motivationen. Wir brachten alle unsere eigenen Ideen dazu ein, was unter der Oberfläche der einzelnen Charaktere vor sich geht. Jeder von uns hatte konkrete Ideen, was die Motivationen, Ängste und Hintergrundgeschichten der jeweiligen Figuren anging. Eine gute Besetzung zeigt sich darin, dass alle gut vorbereitet sind.
Was ist denn die gefährlichste oder zumindest ereignisreichste Reise, die Sie selbst jemals auf dem Weg zu einem Drehort auf sich genommen haben? Befanden Sie sich zum Beispiel mal in einem Flugzeug, das Gefahr lief, abzustürzen?
Nein, das ist mir noch nie passiert. Aber einmal bin ich fast von einer Sicherheitsvorkehrung getötet worden! Hier könnte man wieder das Wort „Schadenfreude“ verwenden…das war wirklich wahnsinnig! Das passierte bei den Dreharbeiten zu Gothic. Ich musste auf ein Pferd steigen, eine Schlinge um meinen Hals legen und dann das Pferd wegschicken, um Selbstmord zu begehen. Bei der Probe versicherte man mir, es könne nichts schiefgehen aufgrund verschiedener Sicherheitsmaßnahmen, der Länge des Seils und so weiter. Ich stieg also aufs Pferd, um die Szene zu proben. Aber dann fiel einer der Sicherheitsbalken herunter, an denen das Seil befestigt waren, und traf mich am Rücken. Fast hätte es also geheißen „Getötet von einer Sicherheitsvorkehrung“!
In Fearless Flyers geht es ja viel um Kontrolle. Die Figuren versuchen anfangs, die Situation unter Kontrolle zu halten und müssen irgendwann akzeptieren, dass ihnen das nicht gelingt. Haben Sie bei Ihrer Arbeit als Schauspieler die Dinge gerne immer unter Kontrolle? Oder lassen Sie sich gerne überraschen und einfach in eine Szene hineinfallen?
Ich glaube, es ist eine Mischung aus beidem. Ich versuche nie, die Kontrolle an mich zu reißen oder andere herumzukommandieren. Vorher mache ich stets meine Hausaufgaben, denke über die Szene nach und habe viele Ideen, was vielleicht funktionieren könnte und was nicht. Aber ich weiß es natürlich nicht genau! Ich zeige den Text vorher niemand anderem, lerne ihn alleine und mache also schon eine Menge Arbeit, bevor ich zu den Dreharbeiten komme.
Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass ich dann einfach abwarten muss, ob ich mit meinen Vorstellungen richtig liege. Ich teile sie dem Regisseur mit und wenn der sich aber etwas anderes gedacht hat, dann diskutieren wir das. Manche Regisseure sagen einem vorher gar nichts, haben nichts geplant und keine Vorstellungen, wie eine Einstellung aussehen soll. Andere haben vor dem Dreh einer Szene bereits konkrete Vorstellungen und alles genau durchgeplant.
Man muss also vorbereitet sein – auf Überraschungen! Wenn eine gute Atmosphäre auf einem Filmset herrscht, dann arbeiten alle beim Entwickeln einer Szene zusammen. Es kann aber auch von Vorteil sein, wenn ein Regisseur schon eine klare Vision im Kopf hat. Unterm Strich hilft es, gut vorbereitet zu sein, aber gleichzeitig offen für Änderungen. Selbst nach all den Jahren bin ich noch nervös und oft nicht sicher, ob ich die richtigen Entscheidungen treffe. Man muss sich eine Mischung aus Unsicherheit und Selbstvertrauen bewahren – offen und verwundbar bleiben, aber gleichzeitig überzeugt von dem, was man tut. Das klingt ein bisschen paradox.
Hat sich Ihre Vorbereitung auf eine Rolle über all die Jahre geändert?
Nicht wirklich. Allerdings stecke ich heute viel mehr Arbeit in die Vorbereitung als früher. Als ich jünger war, hatte ich kleine Kinder und auch sonst viel andere Dinge im Kopf, wie das eben so ist, wenn man jung ist. Das sind alles Dinge, die einen ablenken, sodass man weniger Zeit hat. Jetzt arbeite ich zwar auf die gleiche Weise, bin aber viel besser vorbereitet. Als ich krank war, habe ich gemerkt, dass ich lernen muss, mit Stress umzugehen. Auf einem Filmset sind so viele Leute, die einen ablenken können, aber alle nur ihre eigene Arbeit machen. Ich konzentriere mich heute also ganz bewusst auf all die Dinge, die ich vorhin erwähnt habe – aber eben noch mehr, als ich das früher getan habe.
Dazu kommt noch, dass man mit zunehmendem Alter über mehr Lebenserfahrung verfügt, auf die man zurückgreifen kann. Woran man besonders arbeiten sollte, ist die eigene Bescheidenheit. Das ist etwas sehr, sehr Wichtiges und zeigt sich etwa darin, dass man eine Rolle nicht dafür verwendet, sich selbst gut aussehen zu lassen. Der Job eines Schauspielers ist es, die Figur richtig rüberzubringen, das lässt einen dann auch als Schauspieler gut aussehen. Man dient der Figur, nicht umgekehrt.
Vielen Dank für das Gespräch!
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